Mein Freund Joe

Joe ist ein verfressener, fauler Sack. Wenn ich am Morgen früh aufwache, schläft er meistens noch. Wenn er dann endlich aufwächt, ist das erste, wozu dem ihn sein Instinkt treibt, die Küche. Dort isst er zuerst mal etwas, bevor er dann aus dem Haus verschwindet. Abends kommt er dann nach Hause, nur um dort weiterzumachen, wo er am Morgen aufgehört hat: dem Fressen. Danach pflanzt er sich auf dem Sofa an seine Lieblingsstelle hin und bewegt sich keinen Zentimeter mehr. Manchmal schläft er ein und bleibt bis am nächsten Morgen an Ort und Stelle liegen. Manchmal rafft er sich doch noch auf, geht in sein schön präpariertes Bettchen und schläft dort wieder ein. Sein Tagesablauf besteht praktisch nur aus Essen und Schlafen. Hin und wieder frage ich mich, was Joe tagsüber so treibt. Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass er dann einfach irgendwo auf einer grünen Wiese faul in der Sonne rumliegt und vor sich hin döst.

Joe ist zudem ein Einzelgänger. Fast schon Menschenfeind, könnte man sagen. Auch wenn er sein Bestes unternimmt, um keinen Kontakt zu Menschen zu haben, gibt es diese Tage, an denen es nicht anders geht. Geburtstage, Feiertage… Joe hasst sie alle. Dabei spielt es auch keine Rolle, wer zu besuch kommt. Ob das nun Erwachsene sind, die mit ihm reden wollen oder Kinder, die ihn zum spielen animieren möchten. Joe kann beides nicht abhaben. Natürlich versuchen die Grossen dann, mit ihm zu sprechen. Doch nur allzu schnell verstehen sie meist, dass er natürlich keines Ihrer Worte erfasst. Auch die Kinder merken schnell, dass Joe weder auf einen bunten Ball, noch auf eine schöne Puppe reagiert. Ob Gross oder Klein… Alle merken früher oder später, das Joe am liebsten nur mit sich selbst zu tun hat. Frustriert verschwindet der Besuch dann Abends wieder und Joe und ich haben wieder unsere Ruhe. Wohlwissend, dass der nächste Geburtstag oder der nächste Feiertag bald schon wieder ansteht.

Manchmal frage ich mich, ob Joe wohl glücklich ist. Er führt sein eigenes Leben, hat Unmengen von Spielsachen und Möbel zu Hause und kann Tun und Lassen, was er will. Joe muss glücklich sein. Manchmal aber, wenn er Abends gegessen hat und sich auf das Sofa legt, erkenne ich etwas Trauriges in seinem Blick. Dann springe ich auf das Sofa, lege mich auf seinem Schoss hin und beginne, ganz leise zu schnurren. Meist wandelt sich das Traurige dann in ein unscheinbares Lächeln.

Das mag ich an Joe. Auch wenn wir unterschiedliche Tiere sind, sind wir trotzdem gleich.


Wie auf Social angekündigt, habe ich diese Kurzgeschichte bei einem Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Tiere“ eingereicht. Und obwohl die besten 50 Geschichten es in ein Buch geschafft haben, war meine Geschichte nicht mit dabei. Da ich aber Verbindungen in die Jury hatte, hab ich auch erfahren, warum. Ein Jurymitglied hat sich gegen diese Geschichte gestellt, weil „ein Tier auch ein Tier bleiben soll und nicht vermenschlicht werden soll“. Ich finde aber meinen Story-Twist, bei dem erst am Schluss klar wird, dass die Geschichte aus der Sicht des Katers geschrieben wurde, ziemlich gut. Darum kann ich mit dieser Entscheidung gut leben 🙂