
Spinnst du? Das geht NIE WIEDER weg!“ war wohl einer der ersten Gedanken, der mir damals im Teenager-Alter durch den Kopf schoss. Ihm folgten zahlreiche „Was-wäre-wenn“s. Was wäre, wenn der Tattoowierer unsauber gearbeitet hätte und du eine Blutvergiftung dadurch bekommen würdest? Was wäre, wenn es dann im Alter schlecht aussehen würde, wenn deine Haut faltig wird? Was wäre, wenn du es irgendwann mal bereuen würdest? Weil, wie gesagt: Das geht NIE WIEDER weg.
Damals war es mein Bruder, der sich tattoowieren liess. Natürlich habe ich ihm nichts über diese Gedanken erzählt. Schliesslich war es ja seine Entscheidung und was ich als jüngerer Bruder dazu denke, spielt keine Rolle. Ich sagte wohl lediglich sowas wie „Cool“, ohne tiefer in meine Gedankenwelt blicken zu lassen. Ich wusste damals wohl auch selber nicht, ob ich tatsächlich schockiert und entrüstet, oder doch überrascht und beeindruckt war. Damals war mir lediglich klar: Wer sich zu so einem Schritt entscheidet, hat sich das vorher gut überlegt. Hoffentlich…
Rund 20 Jahre später weiss ich, dass es nicht der Tattoowierer ist, der einen Menschen zeichnet, sondern das Leben. All die grossen Ereignisse, ob nun freudiger oder trauriger Natur, hinterlassen ihre Spuren in unserer Vergangenheit und prägen somit unser Wesen in der Gegenwart. Wir sind in diesem Moment das Ergebnis aller Momente, die uns hier her geführt haben.
Einige davon hinterlassen von sich aus Spuren auf unserem Körper. Wie damals im Werkuntericht, als ich mich an dem Küchenmesser, welches wir selber geschliffen haben, rechts am Unterarm geschnitten habe. Es musste nicht genäht werden, hat jedoch trotzdem eine Narbe hinterlassen. Oder das Kompliment von damals, dass mir „lange Haare richtig gut stehen“, dass noch heute dafür sorgt, dass ich mich mit wallender Mähne im Spiegel betrachte und mich dabei wohl fühle. Andere Momente hingegen, so prägend und wichtig sie auch für uns gewesen sind, lassen unseren Körper unberührt zurück. Und der Gedanke macht mich wahnsinnig!
Ich meine… Da passt man ausnahmsweise ein paar Sekunden im Werkuntericht nicht auf, touchiert in einem ungünstigen Winkel ein eigentlich-gar-nicht-mal-so-scharfes Messer und ZACK, erinnert mich eine 3.5 cm lange Narbe für den Rest meines Lebens daran, dass ich mit 14 Jahren mal ungeschickt war. Ein Moment, der mich hingegen unbeschreiblich glücklich gemacht hat und an den ich mich für den Rest meines Lebens zurückerinnern möchte, geht hingegen spurlos an mir vorbei? Und wenn ich irgendwann in 40 Jahren mal meinen rechten Unterarm anschaue, erinnere ich mich nur an meine Tollpatschigkeit, anstatt an diesem glücklichen Moment in einem fernen Land? Hier stimmt für mich klar das Verhältnis zwischen „Willkür“ und „Selbstbestimmung“ nicht!
Mein Körper ist keine Leihgabe, die am Ende „in möglichst ungebrauchten Zustand“ zurück gegeben werden muss. Mein Körper ist meine Geschichte, die mich von der Geburt bis zum Tod begleiten wird. Und mein Körper soll meine Geschichte erzählen. Nicht nur die Kapitel, die sich nicht verschleiern lassen. Sondern vor allem auch die Geschichten, die es sich zu erzählen lohnt.
Also Nein… ich spinne nicht. Und „nie wieder weg“ gehen Tattoos auch nicht. Spätestens, wenn ich Tod bin, ist auch ihre Zeit abgelaufen. Bis es aber soweit ist, stelle ich mich stolz hin, zeige meine Tätowierungen und erzähle damit meine Geschichte.
Nach dem Text noch ein paar Bemerkungen
1. Natürlich muss nicht jedes Tattoo eine Geschichte erzählen. Manchmal reichts auch, wenn man einfach Freude an dem Motiv hat
2. Natürlich muss nicht jeder sich tätowieren lassen, um eine Geschichte zu haben. Das klappt auch ganz gut so.
3. Jeder soll machen, was er will, weil jeder dazu steht, was er macht. Alles gut.