Euer verdammtes Glück

Es ist der Moment der Entscheidung. Sie, das normalerweise schüchterne, introvertierte Mauerblümchen, die kaum genug Mut besitzt, um mit fremden Personen zu reden, erstrahlt plötzlich im schönstens Kleid des Abends und scheint damit zum ersten Mal den wahren Kern ihrer ach so wunderbaren Persönlichkeit sichtbar nach aussen zu tragen. Und Er, für einmal nicht im stylischen Anzug und wilder Frisur. Seinem Parade-Outfit, welches zeigt, dass er sowohl Wert auf sein Äusseres legt, aber auch seine jugendliche Ungestühmtheit nicht vergessen hat. Nein. Heute, auf dieser Tanzfläche, zeigt er sich mit zerschlissenen Jeans und einem Konzert T-Shirt von Justin Biebers Believe-Tour aus dem Jahr 2012. Dem wohl ehrlichsten Outfit, dass er bisher in seinem Leben getragen hat. Und in dem Moment, als er die Turnhalle zum Abschlussball betritt, wendet sich natürlich der Blick der gesammelten Menge zum Eingang. Zu ihm. Er aber lässt sich nicht davon beeindrucken. Sein Blick schweift durch den Saal, ungeachtet der Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wird. Auf der Suche nach ihr, natürlich. Bis sich ihre Blicke quer durch den Saal treffen, sie einige Sekunden ungläubig in diesem Moment verweilen und dann langsam aufeinander zugehen. Da stehen sie nun. Zusammen und doch allein zu zweit. Mit Bedacht streckt er ihr seine Hand entgegen und fragt sei leise: „Darf ich bitten?“. In diesem Moment setzt die Band zu einem romantischen Lied an. Sie greift zärtlich nach seiner Hand. Gemeinsam gehen sie ein paar Schritte Richtung Tanzfläche, bevor sie sich umarmen und sanft im Takt der ruhigen Musik mitschaukeln. Ein perfekter Moment. Der Beginn einer ganz grossen Liebesgeschichte.

Und ich? Ich hasse euch… Denn was wisst ihr schon vom echten Leben? In diesen 85 Minuten, die ich eurer Geschichte nun meine Aufmerksamkeit geschenkt habe, fehlte jeglicher Ansatz von Realität. Ihr Klischeefiguren wollt ein Beispiel von Liebe sein? Wie wäre es denn, wenn sich sein „Fehltritt“ in der 65ten Minute nicht als „blödes Missverständnis“, sondern als pure Absicht aufgrund eines unerfüllten Wunsches herausstellt? Was, wenn ihr zwei so etwas wie eine „noch nicht verarbeitete Vergangenheit“ besitzen würdet, deren Schatten sich bis in die Gegenwart erstrecken und so etwas wie blindes Vertrauen verunmöglichen? Wo sind die Drogenprobleme, die gewalttätigen Eltern oder die Angststörungen? Wo das „Du bist nicht mein Typ“ und das Ghosting? Wo das „Es gibt kein zurück mehr“ und das finale, abschliessende „Es tut mir Leid“?

Ich hasse euch und euren perfekten Moment. Eure Welt, in der es keine unüberwindbaren Probleme gibt. In der sich alles letzten Endes in Wohlgefallen auflöst, solange man nur fest genug an die Liebe glaubt. In der alles so verdammt einfach ist.

Und trotzdem bin ich immer wieder auch froh, wenn ich euch bei eurem Tanz beiwohnen kann und mir dabei vorstelle, dass dieses Glück vielleicht irgendwo in unserer echten Welt tatsächlich existiert.


Der Text ist entstanden durch Geschichten, die in meinem Umfeld passiert sind und sehr, sehr vielen Wiederholungen dieses Liedes:

Das Titelbild hab ich kostenlos auf unsplash.com gefunden. In dem Sinn: Danke, Matthew Menendez