Die Wahrheit in deinen Augen

Kennen Sie das Gefühl, einen Satz schon so oft genutzt zu haben, dass er jegliche Bedeutung verloren hat? Dass, egal wie gross die Bedeutung der Worte für Ihr gegenüber sein mag, es keine Gefühlsregung mehr in Ihnen auslöst? Natürlich kennen Sie das! Jeder, der bereits längere Zeit in einer Beziehung verbracht hat, weiss, dass das Erste „Ich liebe dich“ viel mehr auslöst als das Tausendste. Oder die Reaktion des persönlichen Umfelds auf die Aussage: „Wir sind schwanger!“. Beim ersten Mal lässt man die Fanfaren erklingen, um die frohe Kunde bis in die hintersten Gefilde des Königreichs erhallen zu lassen. Beim dritten Kind „Freut man sich mega“ darüber. Spätestens aber beim fünften Kind schwingt, mit egal welcher Formulierung, ein unterschwelliges „Reichts jetzt nicht langsam, oder wollt ihr eine eigene Fussballmannschaft heranzüchten?“ mit. 
Jeder kennt so einen Satz, der eigentlich ein Gefühl auslösen sollte, sich aber mit der Zeit abgenutzt hat. Und bei den allermeisten ist es ein Satz, der ein positives Gefühl auslösen sollte. Ich, jedoch, habe einen anderen Satz in meinem Repertoire, der mir einfacher von den Lippen gleitet als jegliche „Guten-Morgen“ Floskel. Den Satz: „Sie sind gefeuert“.

„Menschen haben ein Problem damit, Sachen zu beenden!“, pflegte mein Vater zu sagen. „Ob nun im Job, bei Freundschaften, Mietverträgen oder der Liebe… alles hat irgendwann ein Ende und das Hinauszuzögern ist nur ein Zeichen von Schwäche.“ Ja, mein alter Herr war mehr Abrissbirne als Kummerkasten. So war auch seine Art der Erziehung… sagen wir… ungewöhnlich. Ich erinnere mich, wie ich eines Tages weinend von der Schule nach Hause kam. Ich hatte an diesem Tag einen Korb von einem Mädchen bekommen, in das ich damals jahrelang verliebt war und heulte dementsprechend wie ein Schlosshund. Mein Vater sah sich das Häufchen Elend seines Sohnes an und lallte: „Hör auf zu weinen! Eine Frau ist es nicht Wert, um sie zu weinen!“. Auch wenn das hart war, so hatte mich diese Lektion doch etwas gelehrt: Mein Schwarm interessierte sich nicht dafür, dass es mir schlecht ging. Egal, wie sehr ich weinte und mich selbst bemitleidete. Tatsächlich interessierte sich niemand für meine Tränen. Warum also weinen? Warum dem nachtrauern, was hätte gewesen sein können? Ich wischte die Tränen fort und wollte nie mehr weinen.

Doch es klappte nicht. Spätestens, als mich meine Mutter wieder zu sich holte und bereits aus meinem „Mir geht’s gut“ heraushörte, dass etwas nicht stimmt. Sie kniete sich runter zu mir, streichte mit ihrer Hand durch mein Haar und blickte mir tief in die Augen. „Weisst du… deine Augen sind grün wie ein Smaragd und blau wie das Meer. Und wenn ein Sonnenstrahl auf die Träne trifft, die darauf wartet, geweint zu werden, sind sie das Schönste, was es auf dieser Welt gibt. Die Wahrheit in deinen Augen ist viel zu schön, um sie zu leugnen.“.
Meine Mutter versuchte immer, die Zuversicht in mir zu fördern. Doch die Realität und die Lehren meines Vaters hatten stets mehr Raum eingenommen und spätestens, als meine Mutter mir ihren neuen Freund vorgestellte, wusste ich, das mein Vater Recht hatte. Hinauszögern bringt nichts. Hoffen, bringt nichts. Weil am Schluss findet alles sein Ende. Schade nur, dass das Einzige, was mein Vater nie beenden konnte, das Trinken war. 

Sei’s drum. Ich habe mir also vorgenommen, professionell Sachen zu beenden. Ein lukratives Geschäft, dass mir eine 4-Zimmer Parterre Wohnung mit eigener, kleiner Terrasse in einer ruhigen Gegend gegenüber eines kleinen Flusses beschert hat. Ich kann sogar von meiner Terrasse aus arbeiten und mich lediglich von dem 2-Jährigen Nachbarsmädchen, dass hin und wieder rumheult nerven lassen. Abgesehen davon ist mein Leben perfekt. Wie man professionell Sachen beendet, fragen Sie sich jetzt vielleicht? Ich arbeite bei einer Firma, die von noch grösseren Firmen für das Personalmanagement engagiert wird. Hier gibt es Personen, die Bewerbungsgespräche führen. Leute für schwierige Lohnverhandlungen und sogenannte „Henker“, die Leute entlassen. Pro Woche entlasse ich etwa zwanzig Leute für unterschiedliche Firmen. Das hat mir einen gewissen Ruf in der Branche eingebracht. Wenn ich eine Einladung zu einer „Situationsbestimmung“ versende, zittert der Empfänger bereits. Beim Gespräch selbst gebe ich mir deshalb keine Mühe, den Holzhammer noch in Watte zu verpacken. Warum auch? Die Realität ist, dass das Arbeitsverhältnis sein Ende gefunden hat und egal, wie viele Tränen vergossen oder wie traurig das Schicksal des Arbeitnehmers auch sein mag: es ändert nichts an der Situation. Ob mir die Personen, die ich entlasse, leidtun? Meine Mutter würde sich das sicherlich wünschen. Doch ich bin froh, dass dem nicht so ist. So setze ich mich an meinen Laptop auf der Terrasse, öffne den Kalender und schreibe die nächste Termineinladung mit dem Betreff „Situationsbestimmung“.

„LEA, HALT!!!“, schreit plötzlich jemand laut von rechts. Ich schaue vom Laptop hoch und sehe, wie ein kleines Ding in Richtung Fluss stapft. Noch bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, spring ich weg von meinem Gartentisch und renne nach vorne. Warum kann dieses Mädchen so schnell so leise rennen? Kurz, bevor die Zweijährige vom Bachufer in das rauschende Wasser stürzt, bekomme ich sie zu fassen und reiss sie nach oben. In mir kocht es… wie kann man nur so unverantwortlich als Eltern sein??? Während ich noch auf der Suche nach den richtigen Worten bin, um meinem Wutanfall Luft zu machen, merke ich, wie das kleine Mädchen seinen Kopf zu mir dreht. Sie gibt keinen Mucks von sich. Ihre grossen Augen sind weit aufgerissen. Sie scheint sich unheimlich erschrocken zu haben. Und während ich sie so anschaue, fällt mir auf, dass ihre Augen grün wie ein Smaragd und blau wie das Meer sind. Und dass der Sonnenstrahl, der auf die noch wartende Träne trifft, ihre Augen wunderschön funkeln lässt. 

Schwer ausser Atem erreicht uns der Vater. Aufgeregt redet er auf mich ein. Von „Vielen Dank“ bis zu „Da schaut man kurz nicht hin“ ist alles mit dabei. Auch Lea hat in der Zwischenzeit angefangen, wie ein Schlosshund auf meinem Arm loszuweinen. Ich versuche, beide ein wenig zu beruhigen. „Es ist ja zum Glück nichts passiert“. Nach einigen Minuten beruhigt sich die Situation. Lea hat es sich in den Armen ihres Vaters bequem gemacht und ich bin wieder zurück zu meinem Gartentischen mit dem Laptop. Die Termineinladung mit dem Betreff „Situationsbestimmung“ ist noch geöffnet. Ich halte kurz inne, denke an das Grün und Blau in Lea’s Augen. Vielleicht ist die Zeit gekommen, um etwas aufzubauen, statt abzureissen. So wandert meine Maus zum Empfänger-Feld der offenen Mail und als Empfänger tippe ich die Adresse meines Vorgesetzten ein. Zeit für ein wenig Zuversicht.