Der längste Kaugummi der Welt

Ich weiss noch damals, als ich ein Kind war und Weihnachten vor der Tür stand. Da gab es diesen einen Countdown, der für 24 Tage dieses Monats meinen Morgenroutine bestimmte: Der Adventskalender. Mit jedem Türchen, das ich öffnen konnte, kam Weihnachten und damit eine Flut von neuen Spielsachen näher. Wie ein Kaugummi aber schien sich der ersehnte Tag in weiter Ferne zu befinden. Es konnte mir nicht schnell genug gehen, bis meine Hände endlich den Controller zum damals neuen Nintendo 64 zu greifen bekamen. Ich war aber nicht der, der das zu bestimmen hatte. Dafür gab es ja den Adventskalender. Und so sehr ich auch sofort loslegen wollte: bevor das vierundzwanzigste Türchen nicht geöffnet war, musste ich warten. So sehr mich dies damals auch nervte, hat es mir doch wenigstens eine Sache beigebracht, die ich heutzutage gut gebrauchen kann: Geduld.

Als Erwachsener hingegen fällt es mir leicht, die gelernte Geduld wieder zu vergessen. Du brauchst ein neues HDMI-Kabel? Bestell es online und du hast es Morgen bei dir zu Hause. Keine Lust zu kochen, aber sehr wohl auf frische Burritos? Bestell es online und innert Stundenfrist kannst du dir den Magen mit mexikanischer Küche vollschlagen. Du willst deine Lieblingsserie schauen? Netflix und Co. bieten dir alle Folgen zum Streamen an. Sogar die neusten Videospiele lassen sich ab Release schnell online herunterladen. Wo man sich früher noch in Geduld üben musste, zuckt man heute die Kreditkarte. Und dann kam die Pandemie…

Corona hat uns vieles genommen. Den Restaurantbesuch, das Fussballspiel im Stadion, den Kinoabend, den Friseurtermin, die Bowlingbahn, den Ausgang… Wir müssen aktuell auf vieles Verzichten zum Gemeinwohl. Was vor einem Jahr noch als spannendes und erfolgsgekröntes Gruppenprojekt begonnen hat (am 1. Juni 2020 hatten wir nur 3 Neuinfektionen zu verzeichnen), ist mittlerweile zu einer nationalen Geduldsprobe verkommen. Und die Zeichen stehen mehr auf dritte Welle anstatt Lockerungen. Das frustriert und lässt den Weg bis zum letzten Türchen wieder unendlich lang erscheinen.

Nun hat man zwei Möglichkeiten, um mit der Situation umzugehen. Man kann seinen Fokus auf den Verlauf der Pandemie richten. Die neusten Entwicklungen gespannt verfolgen und jeden Mittag die Infektionszahlen der letzten 24 Stunden verschlingen. Man kann sich in Artikeln verlieren, die davon handeln, «wann endlich alles wieder normal sein wird». Man kann sich in Internetforen verlieren, die behaupten, dass «diese Masken gar nichts nützen und sowieso alles nur Panikmache ist». Kurz: Man kann sich mit jeder Einzelheit der Pandemie auseinandersetzen und so deren Ende so lange Stecken wie den grössten Kaugummi unseres Lebens.

Rückblickend ging ich aber mit dem Adventskalender am besten um, wenn ich mich auf die Schokolade darin konzentriert habe und nicht den Weg, den es noch zu bestreiten gab. Denn die Regeln des Kalenders konnte ich nicht ändern. Nur die Art, wie ich damit umgehe. Und je mehr ich mich mit der Zeit befasste, die ich noch bis Weihnachten absitzen musste, umso frustrierter war ich. Also genoss ich Tag für Tag die Schokolade, die mich täglich hinter dem Türchen erwartete und freute mich, dass meine Wartezeit Tag für Tag kleiner wurde. Bis eines Tages Weihnachten war. Mit Vorfreude lässt es sich halt leichter Leben als mit Frust.