Die Kokosnuss

Kennt ihr das, wenn man einen dieser Sonntagmorgen hat, an denen man noch nicht wirklich aufstehen mag und sich dann frag, «was eigentlich alles so in diesem Jahr passiert ist?» und anschliessend durch all die Bilder und Screenshots des bisherigen Jahres durchscrollt? Manchmal gibt es Jahre, in denen man hier gefühlt in 2 Minuten durch ist und sich die Galerie nur Neuauflagen bekannter Sujets wie Geburtstagsfeiern, Familienfeiern und Memes besteht. In anderen Jahren wiederum scheint das ganze Leben einmal auf dem Kopf gestellt worden zu sein, weil die Normalität am Anfang des Jahres noch eine komplett andere war. Neuer Job, neuer Freundeskreis, neue Wohnung… An irgendeinem Punkt des Jahres hat das Leben oder «Schicksal» beschlossen, dass es nicht mehr so weitergeht wie bisher und alles verändert.

Generell ist es krass, wenn man darüber nachdenkt, wieviel in unserem Leben eigentlich dem Zufall überlassen ist. Du kannst in den Ferien nichtsahnend einen entspannten Strandspaziergang machen und plötzlich von einer herabfallenden Kokosnuss erschlagen werden. Was, gemäss Wikipedia, rund 150-mal pro Jahr passiert und somit jährlich 10-mal mehr Todesopfer fordert als Haiangriffe. Ich will aber nicht zu sehr in die «alles ist Schicksal und kommt so, wie es muss»-Ecke abdriften und nutze darum fortan einen anderen Begriff. Weil dass die Kokosnuss runterfällt, war kein Zufall, sondern nur logisch und dass man einen Spaziergang macht, wenn gerade einen schönen Strand vor sich liegen hat, ebenfalls. Was in diesem Beispiel einfach u huäre fatale Folgen hatte, war das Timing. Das genau in diesem Moment, als man unter der Palme durchspaziert, diese blöde Kokosnuss genau so reif war, um herunterzufallen.

Manchmal passt das Timing perfekt. Das Regionalblatt «Inside Hinterpfupfigen» muss Kosten einsparen und hat deswegen Personal entlassen. Just 1-2 «ich-nehm-mir-mal-eine-Auszeit»-Monate später sucht «Downtown Zürich» einen jungen Journalisten, der nach Zürich ziehen und sein neues Leben in der Grossstadt in einer lebensnahen Kolumne dokumentieren möchten. Zur perfekten Zeit bietet sich die perfekte Gelegenheit für ein neues Leben. Im richtigen Leben aber passt das Timing selten so optimal wie in diesem Beispiel. Im richtigen Leben hätte «Inside Hinterpfupfigen» wohl noch ein halbes Jahr länger durchhalten können. Oder der junge Journalist hätte die Anzeige für «Downtown Zürich» schlicht verpasst. Oder er hätte sich nicht getraut, das Abenteuer anzunehmen und wäre stattdessen für ein paar Monate verreist und dabei bei einem Strandspaziergang um’s Leben gekommen. Oder er wäre nach der Reise wieder wohlbehalten und mit schönen Erinnerungen wieder zu seinem Job bei «Inside Hinterpfupfigen» zurückgekehrt, hätte mit seiner Reisebekanntschaft eine Familie gegründet und seinen Frieden mit dem ruhigen Dorfleben gefunden. Schlussendlich ist das Leben das, was man aus den Chancen macht, die sich bieten.

«Aber Andy… sind wir alle nur Sandkörner im Strudel des Universums, die sich einbilden, ihr Leben selber gestalten zu können, wo doch in Wahrheit sowieso alles nur Zufall oder «gutes/schlechtes Timing» ist, bis wir eines Tages von einer zu gross geratenen Tropennuss erschlagen werden?» – Keine Angst, die Moral von der Geschichte kommt gleich.

Im Kern geht es wohl darum, dieses «Timing» so gut es geht zu treffen. Also die Chancen und Möglichkeiten, die das Leben halt so bietet, wahr zu nehmen und später sich nicht zu Fragen, wie das Leben wohl ausgesehen hätte, wenn man sich zu einem bestimmten Zeitpunkt anders entschieden hätte. Und wenn ihr mich fragt, gibt es hier zwei Dinge, die wichtig sind:

1. Lebe im Hier und Jetzt
Klingt bedeutend einfacher, als es manchmal ist. Entweder, weil die Erinnerungen an die Vergangenheit noch zu präsent sind oder weil man zu viel Angst vor der Ungewissheit der Zukunft hat. Da man in beiden Fällen aber gedanklich nicht in der Gegenwart stattfindet, fällt es so leicht, Chancen und somit das richtige Timing zu verpassen. Was hilft, im Moment zu sein, ist: reinen Tisch zu machen und diesen zu halten. Also das «Wir sollten mal wieder was zusammen machen.» nicht nur zu sagen, sondern auch zu organisieren. Das «Ich werde das beim nächsten Mal ansprechen» nicht hinauszögern, sondern zur Sprache bringen. Und das «Ich wollte schon immer mal… aber finde niemanden, der mit mir geht» einfach selbst durchziehen. Sodass man Platz im Kopf hat, um zu realisieren, dass der Wald aktuell in sämtlichen Herbsttönen erstrahlt und man echt einen schönen Spaziergang machen kann. Zum Beispiel…

2. Entscheide für dich
Das setzt natürlich voraus, dass man sich selbst gut kennt. Was tut mir gut? Was brauche ich, um Ruhe zu finden? Wo komme ich anderen entgegen und was geht mir zu weit? Wenn Mitmenschen dann mit ihren Wünschen, Vorschlägen und Forderungen kommen, kann man aufgrund von der eigenen Meinung und Überzeugung entscheiden, wo man Kompromisse und Risiken eingehen möchte und wo nicht. Dieser Kompass aber sollte man an sich selbst ausrichten. Was bei all den Mitmenschen um uns rum manchmal einfacher und manchmal schwieriger ist. Die Basis aber muss bei uns selbst liegen.

Also… «Sei im hier und jetzt und bei dir selbst»… eigentlich ganz einfach… das kann man noch mit einem «Plane nicht zuweit voraus, weil das Leben sowieso andere Pläne hat als du» und einem gut gemeinten «Bleib flexibel, weil du nie weisst, was als nächstes kommt» ergänzen und schon hat man das perfekte Rezept für ein glückliches und zufriedenes Leben bis an’s Ende der Zeit.

… Nein… natürlich nicht… Man wird trotzdem von Schicksalsschlägen heimgesucht, lässt Chancen liegen und verpasst das Timing immer und immer wieder. Und man nervt sich. Ab der Situation, der Ungerechtigkeit des Lebens und dem verpassten «Was hätte sein können». Das ist ganz normal und gehört zum Leben dazu. Aber was genauso normal ist und zum Leben dazugehört: Solange die ungewisse Zukunft noch vor uns liegt, haben wir immer neue Chancen. Für besseres Timing im richtigen Moment. Für ehrlichere Gespräche in guter Gesellschaft. Für mehr Mut an der richtigen Stelle.

Und wenn ihr mich nun entschuldigt: Ich möchte auf einen Waldspaziergang gehen.