Das letzte Licht

Manchmal, muss man sich verlieren, um zur Ruhe zu kommen. Den Kopf ausschalten. An Nichts denken, um Abstand vom Trubel der Welt zu gewinnen. Ich kann das ganz gut… Eigentlich… Meistens fällt es mir leicht, den Stress zu vergessen und mich auf das zu konzentrieren, was mir Gut tut: Stille. Ruhe. Das Rascheln des Windes, der durch das Blattwerk der Bäume tanzt. In diesen Momenten bin ich ganz bei mir. Diese Momente geben mir Kraft. Darum suche ich auch in den Ferien nach Momenten wie diesem und wie es der Zufall so will, gibt es in einem Wald ganz in der Nähe meines AirBNB eine wunderschöne Lichtung, in der man an klaren Abenden die Sterne wunderbar beobachten kann. Die Einheimischen nennen sie „La última luz“. Klingt nach genau das, was ich brauche. Also binde ich mir meine Turnschuhe um, ziehe meine Sportkleider inklusive blauer Joggingjacke an und mache mich auf dem Weg.

Vom Waldrand bis zur Lichtung sollten es etwa 30 Minuten sein. Die Sonne hat soeben den Horizont erreicht, als ich auf die Uhr schaue. Wenn ich zügig jogge, bin ich wieder hier, bevor es stockdunkel sein wird. Was mir Recht ist. Angst hatte ich nie vor der Dunkelheit. Doch in einem rabenschwarzen Wald zu sein, den ich nicht genau kenne… darauf kann ich gut verzichten. Guten Mutes laufe ich in den Wald und erstaune ab den unzähligen Farben, die mich hier erwarten. Der Herbst lässt die Blätter in den verschiedensten Farben eingefärbt. Der Duft von frisch gefallenem Laub erfüllt mich. Ein Bach fliesst gemächlich dem Weg entlang und transportiert einzelne Blätter wie kleine Boote entlang der Strömung. Ich geniesse die Zeit hier im Wald und bleibe gerne für einen Moment stehen. Nur, um die Ruhe in mich aufzunehmen. Alleine das Hier und Jetzt zu geniessen. Nach einiger Zeit mache ich mich aber wieder auf dem Weg zur Lichtung. Denn langsam taucht die Sonne den Himmel in ein abendliches Orange.

Langsam müsste ich bei der Lichtung ankommen. Ich bin zwar einige Male stehen geblieben, aber in der Zwischenzeit bin ich doch schon seit einer Stunde unterwegs. Bin ich irgendwo falsch abgebogen? Es gab vereinzelt Abzweigungen, aber ich bin mir sicher, dass ich jeweils den richtigen Weg gewählt habe. Ich blicke mich um und Frage mich, ob ich im Kreis gelaufen bin. Da sehe ich eine kleine Taschenlampe am Boden. Ich wische das Laub weg, nehme sie in die Hand und probiere, ob sie noch Energie übrig hat. Der plötzlich herausstrahlende Lichtstrahl blendet meine unvorbereiteten Augen. Ich erschrecke, aber die Lampe hat Energie… „Perfekt“, denke ich. „So habe ich wenigstens ein wenig Licht, wenn es noch dunkler wird. Eine Waffe gegen die Dunkelheit, sozusagen.“ Ein wenig ruhiger als noch zuvor setze ich meinen Weg fort, während sich die Sonne am Horiziont bereits verabschiedet hat. Die Nacht bricht langsam herein.

Schritt für Schritt setze ich meinen Weg fort. Doch anstatt der Lichtung näher zu kommen, scheine ich mich nur weiter in der Finsternis zu verlieren. Denn in der Zwischenzeit sind die letzten Sonnenstrahlen verschwunden und die Dunkelheit der Nacht breitet sich immer weiter aus. Ich versuche cool zu bleiben. Während meiner ganzen Tour habe ich keine Menschenseele auf diesen Wegen gesehen. Da ist es nur logisch, wenn ich auch jetzt alleine hier bin. Vielleicht gab es ein paar Tiere, die langsam ihren Bau verlassen haben. Aber die hätten doch mindestens soviel Angst vor mir, wie ich vor ihnen. Oder? Ich beschleunige meinen Schritt. Nur, um sicher zu gehen. Und ich schalte das Licht der Taschenlampe ein. Damit ich nicht vom Weg abkomme. Früher oder später werde ich wieder aus dem Wald hinaus finden. Ganz bestimmt.

„Alles ist gut“, versuche ich, mich selbst zu überzeugen. Doch das ist schwierig. Meine Gedanken spielen mir Streiche und sehen hinter jedem Baum eine Gefahr. Ein wildes Tier? Ein Geist? Oder ein Mensch? Es könnte alles sein und am wahrscheinlichsten überhaupt nichts. Hirngespinste. Irrationale Ängste, die sich Raum verschaffen und mich verunsichern. Cool bleiben. Durchatmen. Ich bleibe kurz stehen, um mich zu beruhgen. Konzentriere mich auf den Wind, der durch die Blätter in den Bäumen tanzt. Höre das Bächlein, das am Wegrand plätschert. Und ganz weit hinter mir das Knirschen von Kieselsteinen, auf denen draufgetretten wird. Schritte… Moment. Aber ich stehe doch? Langsam drehe ich mich um. In der Ferne sehe ich eine Schattengestalt, die langsam auf mich zukommt, während sie eines ihrer Beine dem Boden entlang schleift. „FUCK!!!!“ denke ich und stürme davon. Irgendwo zwischen Bäumen hindruch, Laub aufwühlend, mitten in die Nacht hinein. Panisch renne ich davon. Nur mit dem Ziel, vor dieser Gestalt zu flüchten. Plötzlich reisst es mich von den Beinen und der Laubboden rast auf mich zu. Hart schlage ich auf diesem auf. War das eine Baumwurzel, über die ich gestolpert bin? Ich nehme die Taschenlampe und leuchte hinter mich, um zu erfahren, über was ich gestolpert bin. Doch die Batterie ist leer. Ich stehe auf, mein rechtes Bein schmerzt. „Shit… Verstaucht“ denke ich und kann mich gerade noch so auf den Beinen halten. Ich muss los. Das Ding ist hinter mir her. Und ich muss aus diesem Wald. Schnell…

Ich weiss nicht, wo ich bin. Alle Wege sehen gleich aus. Die Bäume bieten ebenfalls keine Orientierung. Ich klammere mich an den Gedanken, das jeder Schritt mich näher zum Waldrand bringt. Oder entferne ich mich immer mehr von ihm? Zweifel erfüllen mich. In der Zwischenzeit ist es so finster, dass man kaum noch die eigene Hand vor den Augen erkennen kann. Wenn es doch nur ein wenig Licht geben würde. Dann könnte ich zumindest den Boden beleuchten und sehen, wohin ich trette. Da erscheint ganz weit in der Ferne ein kleiner Lichtstrahl, der sich bewegt. Meine Chance! Ich versuche, dem Licht so schnell es geht näher zu kommen. Schwierig mit einem verstauchten, schmerzendem Bein. Doch es ist meine einzige Chance, noch aus diesem Wald hinaus zu finden. Ich komme näher und erkenne plötzlich… eine blaue Joggingjacke? Das muss eine Einbildung sein. Das kann nicht sein… doch bevor ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann, sehe ich, wie sich die Person mit der blauen Joggingjacke und dem Licht kurz umdreht, inne hält und panisch in die Finsternis des Waldes rennt. Ich versuche, ihr hinterher zu rennen. Doch mit dem schmerzenden Bein hatte ich keine Chance. Ausserdem wusste ich, dass die Taschenlampe nur noch kurze Zeit funktionieren würde. Meine Hoffnung, den Wald in dieser Nacht noch zu verlassen, schwindet. Erschöpft setze ich mich auf den Boden. Jeder Muskel ist erschöpft. Jede Faser sehnt sich nach Ruhe. Auf diesem feuchten, kalten Waldboden drehe ich mich auf den Rücken. Die kalte Nachtluft erfüllt meine Lungen, während ich richtung Himmel blicke. Dort oben, zwischen den finsteren Baumkronen, sehe ich ein paar Sterne gliztern. Ich atme den Duft des frisch gefallenen Laubes. Höre das Rauschen der Blätter in den Bäumen. Und während die Kälte der Nacht mich immer weiter verschlingt, breitet sich eine eine tiefe Müdigkeit in mir aus. Meine Augen schliessen sich… und viellicht bin ich angekommen…

Einfach den Kopf ausschalten. Sich ein wenig verlieren und zur Ruhe kommen. Das ist ihr wichtig. Und da nahe ihres AirBNB ein Wald mit einer Lichtung ist, hat sie beschlossen, sich die Turnschuhe anzuziehen und sich die Lichtung „La última luz“ anzusehen. Zwar wird die Nacht in Kürze einbrechen, doch vom Waldrand bis zur Lichtung sind es gerade mal 30 Minuten. Also joggt sie los und findet sich bereits nach kurzer Zeit in einem wunderschönen Winterwald wieder. Während die Sonne bereits am Horizont verabschiedet hat, schaut sie sich noch ein wenig im Wald um. Da erkennt sie am Boden zwischen dem Restlaub des Herbst und dem Schnee eine kleine Taschenlampe liegen. Sie nimmt sie in die Hand, probiert sie aus und blendet sich selbst mit dem Lichtstrahl, der die Lampe abgibt. „Perfekt“, denkt sie sich. „So habe ich wenigstens noch ein wenig Licht, wenn es nachher dunkler wird.“