Abgeschlossen

„Ich habe abgeschlossen!“ sagt sich Rolf, während er sich auf dem Weg zur Bushaltestelle befindet. Er war schon immer sehr pflichtbewusst und diszipliniert. Legte grösste Sorgfalt bei der Ausübung seiner Tätigkeiten an den Tag und war dabei stets pünktlich. Diese Tugenden prägten Rolf bereits als jungen Mann. Sie ermöglichten es ihm, schnell die Karriereleiter hochzuklettern und schon bald seine ersten, eigenen Mitarbeiter zu führen. Wie ein roter Faden zogen sich diese Tugenden durch Rolfs Leben und so wollte er es auch beibehalten bis zum Ruhestand. Doch nun, als Rolf die Bushaltestelle erreicht und auf der Bank Platz genommen hat, beschleicht ihn ein unangenehmer Gedanke: „Habe ich wirklich abgeschlossen?“.
So zuverlässig er früher auch war: Rolf wurde älter. Schritt für Schritt häuften sich solch kleine Unsicherheiten in seinem Leben. Mal vergass er, die Post vom Briefkasten mit nach Hause zu nehmen. Ein anderes Mal vergass er, die Herdplatten abzuschalten, nachdem er das Abendessen serviert hatte. Alles Kleinigkeiten, die Keiner bemerkte… ausser er selbst. Doch sie waren genug, um Zweifel an seinem Gedächtnis zu sähen. Aber er musste dieses letzte Arbeitsjahr noch zu Ende bringen. Sein Pflichtbewusstsein liess keine andere Option übrig. Er war doch immer der Zuverlässige, Pflichtbewusste. Was für einen Wert hätte er noch, wenn aus ihm ein hilfloser, vergesslicher Tattagreis werden würde? Das konnte er nicht zulassen. Noch nicht zumindest… nach seinem letzten Arbeitstag hat er mehr als genug Zeit, sich um seine Befürchtungen zu kümmern. Und vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm, wie er es sich manchmal einredet.
Der Bus erreicht die Haltestelle und öffnet die Tür. „Ich habe abgeschlossen, ganz sicher!“ sagt sich Rolf im Geheimen, drückt den Türöffner des Busses und steigt ein.

Die Nacht bricht an. Wie an jedem Abend sitzt Rolf mit seiner Frau Beatrice vor dem Fernseher. Seit sie vor 35 Jahren jung geheiratet haben, war Bea die Frau an seiner Seite. Sie kannte Rolf in manchen Punkten besser als er sich selbst und spürte die aufkeimende Unsicherheit in ihrem Mann schon lange. Sie liess ihn aber selbst entscheiden, wann er sich um diese Vorahnung kümmern würde. Anders ging es nicht. Rolf konnte nur Dinge erledigen, denen er sich stellen wollte. Er würde bereit sein, wenn die Zeit gekommen ist. So geniessen Sie den Abend zusammen und sehen sich, wie immer, die Tagesschau an. Der Moderator kündigt den nächsten Beitrag an:
„Die Armee kommt nicht zur Ruhe. Nach einem Verkehrsunfall auf dem Susten-Pass, bei dem letzte Woche ein Rekrut tragisch ums Leben gekommen ist und dem erst kürzlich verunglückten PC-7-Trainingsflugzeug auf dem Schreckhorn folgt nun neues Ungemach. Aus der Kaserne Liestal wurden heute drei Dutzend Handgranaten, 12 Sturmgewehre, sowie fast 7’000 Schuss Munition aus dem Waffenlager gestohlen. Wie die Einbrecher in die Kaserne gelangt sind und mit den zahlreichen Waffen unbemerkt fliehen konnten, ist zurzeit Gegenstand der Untersuchungen der Polizei.“ Beatrice runzelt die Stirn: „Das ist doch die Kaserne, in die du erst kürzlich versetzt wurdest, um deine letzten Diensttage als Waffenmeister zu absolvieren, oder?“ Rolf antwortete nicht. Stattdessen steht er auf, läuft an seiner Frau vorbei und sagt leise: „Ja…“. Bea verfolgt weiter die Tagesschau. Da hört sie, wie hinter ihr eine Tür im Gang abgeschlossen wird. Ein ungutes Gefühl beschleicht sie. Hört sich das Schloss der Toilette sonst nicht anders an?

Plötzlich überfallen die schlimmsten Befürchtungen ihre Gedanken. Ruckartig steht sie auf, stürmt durch den Gang und tatsächlich… die Tür zum WC war offen. Nun weiss sie, wohin Rolf gegangen ist. Sie rennt rüber zum Zimmer, in dem Rolf die Erinnerungsstücke seiner Militärischen Laufbahn gesammelt hat. Die ganzen Orden und Auszeichnungen von früher. Sie will in das Zimmer hineinstürmen. Sie will zu Rolf, ihn umarmen und retten. Doch die Türe ist abgeschlossen. „Rolf! Das ist nicht so schlimm. Mach die Türe auf und wir finden eine Lösung zusammen. Wir schaffen das. Bitte öffne die Türe und lass mich zu dir.“ Beatrice sinkt zu Boden. Die Stille lässt jede Sekunde wie eine Ewigkeit wirken. «Bitte Rolf, lass mich zu dir…» flüstert sie leise und kraftlos. Doch Rolf antwortet ihr nicht. Nur ein letztes Geräusch hallte in diesem Moment durch die Stille der Nacht: Das Ladegeräusch einer alten Armeepistole.